26. KAPITEL

Ami trank einen Kaffee, als Walsh und Kirkpatrick in das Verhörzimmer stürmten, in dem sie die letzte halbe Stunde gewartet hatte. Sie trug Jeans und ein Sweatshirt und sah vollkommen fertig aus.

»Ist Ryan in Sicherheit?« fragte sie, bevor die Männer etwas sagen konnten.

»Ihm geht's gut«, beruhigte Walsh sie. »Ich habe vorsichtshalber noch einen Wagen dorthin geschickt. Jetzt erzählen Sie uns, was in Ihrem Haus passiert ist.«

»Die Polizisten, die mich bewacht haben, sind tot. Ich wäre ebenfalls tot, wenn Carl mich nicht gerettet hätte.«

»Wer ist Carl?« wollte Walsh wissen.

»Der richtige Namen meines Mandanten ist Carl Rice, nicht Daniel Morelli. Die Frau, die ihm bei der Flucht geholfen hat, ist Vanessa Wingate, die Tochter von General Morris Wingate.«

»Derselbe Wingate, der sich als Kandidat für das Amt des Präsidenten der Vereinigten Staaten bewirbt?« fragte Walsh nach.

Ami nickte.

»Heilige Scheiße!«

Brendan Kirkpatrick stellte sich gerade die Konsequenzen für seine Karriere vor, wenn er eine landesweite Fahndung nach der Tochter eines Mannes herausgab, der im Moment als aussichtsreichster Anwärter für die Nominierung als Präsidentschaftskandidat seiner Partei gehandelt wurde.

»Also gut, Ami«, sagte er. »Fangen wir vorn an! Was hat die Tochter eines Präsidentschaftskandidaten mit einem umher ziehenden Schreiner zu schaffen, der bei einem Baseballspiel in eine Schlägerei verwickelt worden ist?«

Während der nächsten halben Stunde wiederholte Ami vor dem Staatsanwalt und dem Detective die Geschichten, die Carl und Vanessa ihr erzählt hatten. Die beiden Männer hörten ihr aufmerksam zu, und Walsh machte sich Notizen. Als Ami mit ihrem Bericht fast am Ende war, kam ein Beamter mit einer Nachricht für herein. Der Detective schnitt ihm das Wort ab und ging mit ihm hinaus. Kurz darauf kehrte er zurück. Seine düstere Miene versprach nichts Gutes.

»Die Männer, die ich zu Ihrem Haus geschickt habe, sind zurück. Sie haben die Officer gefunden. Sie sind beide tot. Sonst gibt es keine Leichen in Ihrem Haus.«

»Das ist unmöglich!« erklärte Ami verwirrt.

»Haben Sie die Männer gesehen, die die Beamten ermordet haben?« wollte Walsh wissen.

»Haben Sie nicht zugehört? Einer von ihnen hat mich mit einem Messer angegriffen!«

»Beruhigen Sie sich«, mischte sich Kirkpatrick ein.

»Halten Sie mich für eine Lügnerin? Glauben Sie, dass ich mir das alles ausgedacht habe?«

»Niemand behauptet, dass Sie lügen«, erwiderte Kirkpatrick schnell. »Aber diese ganze Geschichte klingt einfach ...«

»Unglaublich?« beendete Ami den Satz für ihn. »Meinen Sie etwa, das wäre mir nicht klar?«

Ein unbehagliches Schweigen senkte sich über den Raum. Ami nutzte den Moment, um nachzudenken.

»Vanessa hat auf einem Schotterweg im Wald hinter meinem Haus gewartet, während Carl mich gerettet hat. Nachdem wir das Haus verlassen haben, fuhren die beiden mich hierher. Noch auf dem Waldweg haben uns Männer aus einem anderen Wagen angegriffen. Carl hat den Fahrer erschossen, und der Wagen ist in einen Graben gerutscht.

Offenbar war er nicht schwer beschädigt, so dass sie zu meinem Haus fahren und die Leichen wegschaffen konnten.«

Bevor Kirkpatrick darauf etwas erwidern konnte, ging die Tür des Verhörzimmers auf. Ein großer Mann trat ein. Sein Gesicht wirkte wie in Granit gemeißelt. Ihm folgten zwei andere Männer in blauen Nadelstreifenanzügen.

»Wer sind Sie?« fuhr Kirkpatrick ihn an.

»Victor Hobson, Stellvertretender Direktor für polizeiliche Ermittlungen beim FBI. Das hier sind die Agenten McCollum und Haggard. Soweit ich weiß, hatten Sie Carl Rice verhaftet und haben ihn entkommen lassen. Ich werde Ihnen helfen, ihn wiederzufinden.«

Walsh und Kirkpatrick warfen sich einen vielsagenden Blick zu.

»Woher wissen Sie, dass der Name unseres Gefangenen Carl Rice ist?« erkundigte sich der Bezirksstaatsanwalt.

»Ich jage Rice seit 1985. Er wird wegen Mordes an dem Kongressabgeordneten Eric Glass und an General Peter Rivera gesucht. Bei der Frau, die ihm zur Flucht verholfen hat, handelt es sich sehr wahrscheinlich um Vanessa Kohler, General Morris Wingates Tochter.«

»Mr. Hobson«, erwiderte Kirkpatrick, »ich würde Ihnen gerne eine Frage stellen, aber vorher möchte ich hören, was Sie uns über Rice und Vanessa Wingate zu sagen haben. Können Sie uns mitteilen, was Sie wissen?«

»1985 wurde der Kongressabgeordnete Eric Glass in seinem Sommerhaus am Lost Lake, Kalifornien, gefoltert und ermordet. Ein Deputy griff Vanessa Wingate auf, die offenbar unter Schock über das Grundstück irrte. Sie hat Carl Rice als den Mörder identifiziert, aber außer ihrer Aussage wurde nichts gefunden, was Rice mit diesem Verbrechen in Verbindung brachte. Man hat mich dorthin geschickt, um in der Angelegenheit zu ermitteln, weil das Opfer Kongressmitglied war. Als ich in Lost Lake eintraf, hatte General Wingate seine Tochter bereits aus dem Krankenhaus geschafft und sie in die Obhut einer privaten psychiatrischen Klinik übergeben. Dort blieb sie ein Jahr. Während der Zeit verhinderten die Ärzte, dass ich mit ihr reden konnte.

Ich erfuhr, dass Rice und Ms. Wingate während ihrer Schulzeit zusammen gewesen waren. Sie sind sich dann einen Monat vor dem Mord an dem Kongressabgeordneten zufällig in Washington begegnet. Ich fand ebenfalls heraus, dass Rice erst kurz zuvor aus psychischen Gründen aus dem Militär entlassen worden war. Die vorherrschende Theorie lautet, dass Rice den Abgeordneten vermutlich aus Eifersucht ermordet hat. Falls er überhaupt der Täter war.

Einige Monate nach dem Mord an Eric Glass wurde General Peter Rivera in Maryland gefoltert und ermordet. Die Vorgehensweise war identisch mit der beim Mord an Glass. Konkrete Hinweise am Tatort des Rivera-Mordes wiesen auf Rice als Täter hin.

Ich habe Miss Wingate nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus befragt. Sie distanzierte sich von ihrem Vater. Sie hatte den Mädchennamen ihrer Mutter angenommen und hieß nun Kohler. Miss Kohler bestätigte, dass sie sah, wie Rice den Kongressabgeordneten ermordet hat. Sie stritt ab, dass Glass und sie ein Verhältnis hatten, und weigerte sich, mir zu sagen, warum sie in Glass' Haus gewesen ist.« Er dachte kurz nach und zuckte dann mit den Schultern. »Das ist alles, was ich über den Fall weiß. Sie hatten eine Frage an mich?«

»Mr. Hobson, haben Sie jemals gehört, dass Carl Rice Mitglied einer geheimen Armyeinheit gewesen ist, die von General Wingate geleitet wurde?« fragte Kirkpatrick

»Das behauptet Vanessa Kohler in einem unveröffentlichten Manuskript. Die Personalunterlagen von Carl Rice widersprechen diesen Behauptungen. Nach allem, was ich weiß, hasst sie ihren Vater. Sie glaubt, dass er ihre Mutter ermordet hat. Außerdem behauptet sie, dass er John F. Kennedy erschossen hätte.«

Kirkpatrick und Walsh starrten sich ungläubig an.

»Sie wollen uns wohl veralbern«, sagte der Staatsanwalt.

»Also ist sie übergeschnappt?« meinte Walsh.

»Vanessa Kohler ist eine sehr labile Frau mit vielen merkwürdigen Vorstellungen. Sie arbeitet für ein zweifelhaftes Magazin, das Geschichten über Entführungen durch Aliens und das Auftauchen von Elvis bringt.«

»Wir haben gerade erfahren, dass Carl Rice behauptet, diese Einheit habe wirklich existiert und er habe unter dem Befehl des Generals darin gedient«, erklärte Walsh.

»Meiner Meinung nach haben wir es hier mit zwei geistig gestörten Individuen zu tun, die gegenseitig ihre Phantasien anheizen. Es ist letztlich sogar möglich, dass Vanessa den Kongressabgeordneten ermordet und die Tat Rice in die Schuhe geschoben hat.«

»Warum sollte er Vanessa dann helfen?« fragte Ami.

»Wer sind Sie?« wollte Hobson wissen.

»Ami Vergano. Carl hat die Wohnung über meiner Garage gemietet. Er hat als Assistenztrainer bei dem Baseballspiel meines Sohnes ausgeholfen, als er Barney Lutz und den Officer verletzt hat.«

»Mrs. Vergano ist Rices Anwältin«, fügte Kirkpatrick hinzu.

»Verstehe«, meinte Hobson. »Nun, Mrs. Vergano, falls Rice tatsächlich verrückt und in Vanessa Kohler verliebt ist, könnte er zu allem fähig sein.«

»Mr. Hobson«, erwiderte Ami, »heute Nacht ist jemand in mein Haus eingebrochen. Dieser Jemand hat zwei Polizisten ermordet und versucht, auch mich umzubringen. Carl hat mich gerettet. Halten Sie es wirklich für so abwegig, dass Carl und Vanessa die Wahrheit über den General und diese Einheit sagen?«

»Morris Wingates Firma verfügt über eigene Sicherheitsbeamten. Falls der General in Rice eine Gefahr für seine Tochter sah, könnte er ihr seine Leute hinterher geschickt haben.«

»Aber sie haben die Polizisten ermordet!«

»Haben Sie gesehen, wie sie das taten?« erkundigte sich Walsh.

Ami schwieg. Als sie antwortete, hörte sie sich nicht mehr so sicher an. »Ich habe gesehen, wie Carl den Mann getötet hat, der in mein Zimmer eingebrochen ist. Er sagte mir, dass die Männer meine Wachen ermordet hatten.«

»Da haben Sie's«, meinte Hobson. »Ist es nicht ebenso möglich, dass Rice die Polizisten und Wingates Männer ermordet hat, die sie vor ihm schützen sollten? Rice könnte ihnen aufgelauert, sie ermordet und ihnen dann erzählt haben, dass er Sie gerettet hat.«

»Diese Spekulationen führen uns nirgendwo hin«, mischte sich Walsh ein. »Es spielt keine Rolle, ob diese Einheit existiert oder nicht. Rice ist aus der Sicherheitsverwahrung ausgebrochen, und Vanessa Wingate hat ihm geholfen. Sie sind flüchtig, bewaffnet und gefährlich. Wir müssen sie erwischen. Die Hintergründe können wir erörtern, wenn sie hinter Schloss und Riegel sitzen.«

Die Schuld wird nie vergehen
cover.xhtml
Margolin, Phillip - Die Schuld wird nie vergehen_split_000.htm
Margolin, Phillip - Die Schuld wird nie vergehen_split_001.htm
Margolin, Phillip - Die Schuld wird nie vergehen_split_002.htm
Margolin, Phillip - Die Schuld wird nie vergehen_split_003.htm
Margolin, Phillip - Die Schuld wird nie vergehen_split_004.htm
Margolin, Phillip - Die Schuld wird nie vergehen_split_005.htm
Margolin, Phillip - Die Schuld wird nie vergehen_split_006.htm
Margolin, Phillip - Die Schuld wird nie vergehen_split_007.htm
Margolin, Phillip - Die Schuld wird nie vergehen_split_008.htm
Margolin, Phillip - Die Schuld wird nie vergehen_split_009.htm
Margolin, Phillip - Die Schuld wird nie vergehen_split_010.htm
Margolin, Phillip - Die Schuld wird nie vergehen_split_011.htm
Margolin, Phillip - Die Schuld wird nie vergehen_split_012.htm
Margolin, Phillip - Die Schuld wird nie vergehen_split_013.htm
Margolin, Phillip - Die Schuld wird nie vergehen_split_014.htm
Margolin, Phillip - Die Schuld wird nie vergehen_split_015.htm
Margolin, Phillip - Die Schuld wird nie vergehen_split_016.htm
Margolin, Phillip - Die Schuld wird nie vergehen_split_017.htm
Margolin, Phillip - Die Schuld wird nie vergehen_split_018.htm
Margolin, Phillip - Die Schuld wird nie vergehen_split_019.htm
Margolin, Phillip - Die Schuld wird nie vergehen_split_020.htm
Margolin, Phillip - Die Schuld wird nie vergehen_split_021.htm
Margolin, Phillip - Die Schuld wird nie vergehen_split_022.htm
Margolin, Phillip - Die Schuld wird nie vergehen_split_023.htm
Margolin, Phillip - Die Schuld wird nie vergehen_split_024.htm
Margolin, Phillip - Die Schuld wird nie vergehen_split_025.htm
Margolin, Phillip - Die Schuld wird nie vergehen_split_026.htm
Margolin, Phillip - Die Schuld wird nie vergehen_split_027.htm
Margolin, Phillip - Die Schuld wird nie vergehen_split_028.htm
Margolin, Phillip - Die Schuld wird nie vergehen_split_029.htm
Margolin, Phillip - Die Schuld wird nie vergehen_split_030.htm
Margolin, Phillip - Die Schuld wird nie vergehen_split_031.htm
Margolin, Phillip - Die Schuld wird nie vergehen_split_032.htm
Margolin, Phillip - Die Schuld wird nie vergehen_split_033.htm
Margolin, Phillip - Die Schuld wird nie vergehen_split_034.htm
Margolin, Phillip - Die Schuld wird nie vergehen_split_035.htm
Margolin, Phillip - Die Schuld wird nie vergehen_split_036.htm
Margolin, Phillip - Die Schuld wird nie vergehen_split_037.htm
Margolin, Phillip - Die Schuld wird nie vergehen_split_038.htm
Margolin, Phillip - Die Schuld wird nie vergehen_split_039.htm
Margolin, Phillip - Die Schuld wird nie vergehen_split_040.htm
Margolin, Phillip - Die Schuld wird nie vergehen_split_041.htm
Margolin, Phillip - Die Schuld wird nie vergehen_split_042.htm
Margolin, Phillip - Die Schuld wird nie vergehen_split_043.htm
Margolin, Phillip - Die Schuld wird nie vergehen_split_044.htm